Ein Pfennig auf dem Schienengleis
Als Rosa zu uns in die Straße zog, begann für uns Multi Kulti Kinder auch eine Zeit mit vielen Abenteuern. Sie lernte sehr schnell deutsch und war blitzschnell Mitglied unserer Bande. Meist waren wir zu fünft oder sechst in der Straße unterwegs. Rosa war die erste, die mutig genug war, einen Aufstieg und Abstieg über die Ziegelsteinmauer am Ende der Gasse zu wagen. “Kommt! Kommt doch”, rief sie von der anderen Seite. Was blieb uns anderes übrig.
Damit erschloss sich uns ein Reich, das nur uns allein gehörte, denn die Erwachsenen haben ja fleißig gearbeitet und das Gelände war so groß, das wir aus jeglichem Blickfeld entschwanden.
Und so bahnten wir uns von nun Tag um Tag, Wege durch den Pflanzendschungel. Bis wir eines Tages direkt an die Bahngleise vordrangen. Da war kein Zaun. Ein grenzenloser Blick auf die vier Gleise. Auf denen die dunklen Rösser, zornig ihre weißen Wolken in den Himmel stießen.
Hin und wieder wenn der Zug aus dem Barmer Bahnhof herausfuhr, hatte er noch gar nicht so viel Tempo und wenn wir dann am Bahndamm hockten, wurden wir von weißem Nebel vollkommen eingehüllt. Dichte weiße Wolken aus Wasserdampf. Und es war höllisch laut. Die Gewalt dieser Dampflokomotiven wirkte auf uns Kinder so stark, das wir uns die ersten Male gemeinsam an den Händen fest halten mussten. Da schwankte der Boden unter den Füßen.
So hatte ich dann auch das erste mal Rosa’s Hand in meiner Hand. Ich wollte sie nie wieder loslassen, weil sie so wunderbar warm und weich war. Ihre Hand fühlte sich so ganz anders an, als die Hände meiner Brüder. Beim ersten Mal durchströmte mich eine unglaubliche Wärme, ohne das ich wusste woher die kam.
Und dann eines Tages liegt er auf dem Schienengleis zwischen Wuppertal und Köln und glänzt in der Sonne. Es ist ein Kupferpfennig. Und er wartet auf den Zug. Genauso wie wir.
Doch wie war er da hingekommen? Vorausgegangen war ein spannender Augenblick. So etwas wie ein Mutprobe. Axel, ein kleiner blonder Junge aus der Nachbarschaft, stand in seiner kurzen schwarzen Lederhose am Gleiskörper und sagte:”Was passiert wohl wenn ich einen Pfennig auf das Gleis legen.
Rosa sagte: “Dann entgleist der Zug!”
Axel, schaute etwas erstaunt und sagte dann: „Das glaube ich nicht!“
Ich sagte:“Wir sollten es ausprobieren. Aber ich traue mich nicht.“
„Ich mache das! Gib her!“, sagte Rosa und streckte ihre Hand aus um den Pfennig entgegen zu nehmen. Dann kletterte sie einfach über den Schotter das Bahngleis hinauf und legte den Pfennig auf die vordere Schiene.
Ein Moment, in dem ich tief beeindruckt war von ihrem Mut. Unglaublich. Das war der Moment in der bei mir eine grenzenlose Bewunderung für sie entstand. Ein unglaublicher Respekt.
Die Spannung für uns Kinder wuchs von Minute zu Minute. Wann würde der nächste Zug kommen? Und dann hörten wir eine Dampflokomotive am Bahnhof pfeifen. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Und schon sahen wir den großen schwarzen runden Kessel, mit den weißen Wolken darüber kommen.In Deckung! Und wir sprangen etwas weiter zurück und duckten uns ins Gebüsch.
Im nächsten Augenblick war die Lokomotive mit ihren vielen Waggons an uns vorbei. Nichts war passiert. Ich weiß nicht, ob wir glücklich waren, das der Zug nicht entgleist war, oder dass alles gut gegangen war. Kaum verschwand die rote Laterne des letzten Waggon im Nebel, kletterte Rosa schon den Schotter hinauf, bückte sich suchend und hob etwas auf. Dann rief sie:“Schaut euch das an. Der ist ganz Platt. Vorsichtig näherten wir uns dem Gleis und den Schienen.
Tatsächlich. Es war kein Pfennig mehr. Das Kupfer war so breit wie ein zehn Pfennig Stück. Rosa kam den Bahndamm herunter geklettert. Wir alle umringten sie, und betrachteten uns das Wunderwerk. Unsere Augen leuchteten.Was für ein Abenteuer! Ab diesem Augenblick habe ich sie geliebt. Die war einfach genialer, wie ein großer Bruder.
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